#98 Träne, die - (bei starker Gemütsbewegung oder durch äußeren Reiz) im Auge entstehende und als Tropfen heraustretende klare Flüssigkeit
Wenn man sich so lange kennt und sich wöchentlich sieht, dann kann man davon ausgehen, dass Abschiede weniger schmerzen. Dem ist aber nicht so. Ich dachte, diesmal kann ich meine Tränen komplett zurückhalten….
Ich bin wie immer viel zu früh am Bahnhof. Der Zug kommt sogar halbwegs pünktlich. Und der Zug fährt in den Bahnhof ein. Unzählige Leute steigen aus. Sie alle interessieren mich nicht. Meine Augen überfliegen die Gesichter der Menschen. Nein. Nein. Nein. Nein. Und dann sehe ich das vertraute Gesicht. Ewig weit weg. Ich laufe in seine Richtung. Er sieht mich auch und dann fallen wir uns in die Arme. Mein Herz rast, als wenn wir uns zum ersten Mal im Leben sehen würden. Genau wie beim letzten Mal. Meine Atmung wir unregelmäßig, meine Augen füllen sich mit Tränen und ich fange an zu lachen. Ein Jahr ist es her, als wir uns das letzte Mal wirklich gesehen haben. Ein langes Jahr mit mehr Tiefen als Höhen. Wir fahren wieder mit der Bahn zu mir. Und ich habe immer ein eher unwirkliches Gefühl, dass Thunny wirklich neben mir sitzt. Es ist was ganz anderes, wenn man einen Menschen nur bei Skype sieht, als im Real Life. Mit neuem Herd in der Wohnung, verbrachten wir das Wochenende ohne verbrannte Mahlzeiten. Na gut…Nudeln können schlecht im Wasser verbrennen. Soll aber alles schon einmal vorgekommen sein.
Der erste Abend verlief nicht besonders spannend. Ankommen. Essen. Zocken. Gegen Lvl.9-Bots in Brawl verlieren. Resignieren. Ins Bett gehen. Auch wenn ich den Maschinisten an meiner Seite habe, haben Thunny und ich in einem Bett geschlafen. Nach 6,5 Jahren Freundschaft wäre es mir doch auch sehr komisch vorgekommen, hätte ich oder er auf der Couch geschlafen. Ich denke und hoffe auch nicht, dass der Maschinist da ein Problem mit hat, auch wenn er es verneint und sagt, dass er da „recht indifferent“ ist. Funfact: Je öfter ich den letzten Satz lese, desto komischer wird er
Wir haben schon ewig davon geredet, an den Strand zu gehen, da ich praktisch im Wasser wohne und zum richtigen Strand nur 20 Minuten laufe. Unsere Faulheit und das drohende Kackwetter haben uns dann doch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Da wir trotzdem irgendwie raus wollten, saßen wir den ganzen Abend auf meinem Balkon und haben über Gott und die Welt geredet. Zukunft, Geld, Liebe, möglicher Umzug, Studium, kalte Füße und Rasur. Wir haben Kerzen angemacht, uns in Decken eingekuschelt und saßen tatsächlich sechs Stunden draußen. Immerhin waren wir an der frischen Luft und uns bleibt noch etwas, was wir das nächste Mal machen, wenn wir uns wieder sehen. Da einem von uns beiden dann kalt wurde, der nicht ich war, gingen wir dann rein und haben uns schlafen gelegt.
Der letzte Tag verlief auch nicht viel anders. Ewig im Bett liegen, frühstücken auf dem Balkon und losfahren zum Bahnhof. Der Maschinist ist dann an einer Haltestelle dazu gestiegen und dann trafen meine beiden Lieblingsmenschen aufeinander. Die Zukunft und die Vergangenheit und ich als Verbindung in der Mitte.
Mittlerweile sind wir am Bahnhof angekommen, standen am Gleis und warteten auf den Zug. Noch bin ich ruhig. Noch bin ich fröhlich. Noch ist auch kein Zug da. Wir haben dann noch ein Foto gemacht, damit ich endlich ein schönes Bild von Thunny und mir habe. Nicht so eins, wie das völlig verheulte, welches jetzt an meiner Wand hängt.
Und dann fährt der Zug ein. Eine letzte Umarmung. Und ich fange an zu weinen. Ich habe weitaus weniger geweint als letztes Mal. Ein paar Tränen flossen bei mir, abends als ich alleine war, war ich nochmal ein wenig traurig. Aber mir geht es wieder gut. Das heißt, mir ging es nie schlecht.
Ich habe mir aber noch ein paar Gedanken gemacht… Ich weiß, dass ich den Maschinisten nie verlieren will. Ich kann mir niemanden vorstellen, der seinen Platz in meinem Herzen einnehmen kann. Thunny hat einen Sonderstatus, das ist ganz klar. Eine innige Freundschaft, die noch viel weiter geht als „normal“, welche durch das Internet entstanden ist und nun fast 7 Jahre anhält. Und dann auf der anderen Seite die Liebe zum Maschinisten. Wenn ich mein Herz teilen müsste, wäre es 51% zu 49% für den Maschinisten. Tut mir Leid Thunny – ich liebe dich, aber anders. Ich weiß, dass nur du und ich das verstehen können…und das ist gut so.